Dr. Gerhard Kesseler, Jahrgang 1931, lebte von 1946 bis 1958 in Oberkassel und genießt heute seinen Ruhestand in Genf. Für den Heimatverein verfasste er 2014 diesen Text.
Mein Ur-Urgroßvater Simon Stecker kam als Kutscher des Hauses Schaumburg-Lippe nach Oberkassel. Durch seine zweite Heirat mit der Witwe Wolf wurde Simon zum Gastwirt der „Wolfsburg“. Er fand Gefallen an dem neuen Beruf und überzeugte später auch seinen Schwiegersohn, die Gastwirtschaft zu übernehmen, obwohl dessen angestammter Beruf Bauunternehmer war.
Nach der Übernahme der Gastwirtschaft durch das junge Paar Wilhelm Baumotte und Mathilde geb. Stecker (aus erster Ehe) begann eine Blütezeit des Gasthauses. Bald wurde es mit etlichen Gästezimmern zu einem Hotelbetrieb. Für den Erfolg der Wolfsburg waren zweifellos die geschickte Leitung des Betriebs und die gute Küche entscheidend, aber auch die günstige wirtschaftliche Entwicklung nach dem Krieg 1870/71. Die Anfänge des Tourismus fielen in diese Zeit. Freilich hieß das Verreisen zum eigenen Vergnügen und zur Erholung in der schönen Jahreszeit damals „Sommerfrische“.
Zur Wolfsburg gehörte nach dem Ankauf weiterer Grundstücke durch Wilhelm Baumotte ein großer Grundbesitz. Er reichte nach Westen über eine Länge von mindestens zweihundert Metern bis fast an den Rhein; südlich der heutigen Simonstraße (benannt nach Simon Stecker) erstreckten sich drei weitere Parzellen, die ebenfalls für die Gartenwirtschaft genutzt wurden.
Auf der mittleren der drei wurde vermutlich 1875/76 ein Gebäude errichtet, das als „Dépendance“ für die Wolfsburg diente, also weitere Gästezimmer bereithielt. Es war ein reines Zweckgebäude, ein Ziegelbau mit einem einfachen Grundriss. In jedem der beiden Stockwerke befanden sich vier Zimmer mit einem Flur in der Mitte. Drei der Zimmer hatten etwa die gleiche Größe, ein Zimmer auf der Gartenseite war durch das Treppenhaus kleiner und diente als Küche. Das Dachgeschoss war für das Hotel hauptsächlich als Abstellraum konzipiert worden, später wurde es als zusätzlicher Wohnraum genutzt.
Nach Jahren beruflich bedingter Abwesenheit lebten meine Großeltern Mathilde und Dr. Werner Krone Ende der 20er Jahre als Rentner wieder in Oberkassel in dem zum Wohnhaus gewordenen Bau. Die Wolfsburg war inzwischen nicht mehr im Besitz der Familie. Der große Garten war Werners Reich und half mit seinen Produkten zur Senkung der Lebenshaltungskosten angesichts der bescheidenen Rente und der wirtschaftlichen Not in Deutschland. Das Haus mit den geliebten Großeltern war für mich als kleiner Junge ein Paradies; mit siebzehn Jahren habe ich dann mitgeholfen, die Trümmer dieses Paradieses wegzuräumen.
Fast jeden Sommer in den 30er Jahren fuhr meine Mutter mit uns Kindern für einige Wochen zu ihren Eltern. Es war eine lange Bahnreise von Stettin über Berlin und Köln nach Oberkassel, aber uns erwarteten glückliche Ferientage. In der Ecke des Oberkasseler Grundstücks, die von der Haupt- und der Simonstraße begrenzt wurde, stand ein riesiger Kastanienbaum. In seinem Schatten ließen sich auch die heißesten Sommertage gut ertragen, besonders wenn meine Großmutter dort den Kaffeetisch gedeckt hatte. In seiner gewaltigen Krone konnte man herrlich klettern.
Schon vor dem Krieg wurden einige Räume des Hauses vermietet, später gab es verschiedentlich Einquartierung von Soldaten. Mein Großvater starb dort im November 1943.
Am 19. März 1945 wurde das Haus durch eine deutsche Granate in Brand geschossen. Meine Großmutter hat die Ereignisse so geschildert: Als die Amerikaner, ohne Widerstand zu finden, in Oberkassel einmarschierten, errichteten sie eine Funkstelle im Dachgeschoss ihres Hauses. Zu dieser Zeit hielten sich die Hausbewohner, durchweg betagte Leute, schon seit Tagen im Keller auf. Den hatten die amerikanischen Soldaten beim Betreten des Hauses von außen abgeschlossen. Die Einrichtung der Funkstelle wurde jedoch von der deutschen Artillerie bemerkt, die auf dem „Kuckstein“ in Stellung gegangen war. Vermutlich beendete ein einziger wohlgezielter Schuss, der das Dachgeschoss in Brand setzte, die Tätigkeit der Amerikaner. Sie kamen die Treppe heruntergelaufen, schlossen mit dem Ruf „Haus brennt“ den Keller auf und machten sich aus dem Staub. Es war aussichtslos und für die Bewohner auch körperlich nicht möglich, den bereits lichterloh brennenden Dachstuhl zu löschen. So brannte das Haus bis auf die Grundmauern ab.
Meine Großmutter fand Unterkunft bei der Familie Müller in der Schulstraße (heute Basaltstraße). Im August 1945 kam meine Mutter mit ihren beiden kleinen Mädchen hinzu und im Oktober 1945 wurde mein Vater aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft entlassen. Unsere Familie wurde im Frühjahr 1946 in eine Zweizimmerwohnung im Haus Carstanjen in der Kinkelstraße eingewiesen. Als der letzte Heimkehrer traf ich schließlich im Herbst 1946 dort ein. Beim „Enttrümmern“ des Hauses 1947 entdeckten wir den Zünder der Granate, die es in Brand gesetzt hatte. Ein Wiederaufbau war aber angesichts des Zustandes der Ruine nicht möglich, daher wurde das Grundstück um 1950 verkauft und das Gebäude abgerissen.
Abb. 1: Die Wolfsburg
Abb. 2: Haus Hauptstraße 206
(heute etwa Königswinterer Straße 706)
Abb. 3: Der Zünder der deutschen Granate
Abb. 4: Das Haus als Ruine