Dr. Helmut Kötting
am Ende des 4. Kriegsjahres
Bürgermeister Nücker schilderte dem Landrat die Stimmung in der Bürgermeisterei Oberkassel während des vierten Kriegsjahres als fortgesetzt zuversichtlich und voller Vertrauen in die Oberste Heeresleitung (OHL), insbesondere in Hindenburg. Nücker lobte vor allem das Bemühen der Geistlichkeit, die Bevölkerung über die Kriegslage und die Notwendigkeit der einzelnen Maßnahmen der Ernährungszwangswirtschaft aufzuklären. Die guten wirtschaftlichen und Arbeitsverhältnisse beruhten auf der erhöhten Auftragslage der vornehmlich für die Rüstungsindustrie arbeitenden Betriebe, die somit höhere Löhne zahlen konnten und zum freiwilligen Ausbau des Unterstützungswesens bereit waren. Bedingt durch die Verbesserung der Lage der Arbeiter machte auch die „Gewerkschaftsbewegung … wenig von sich reden“. Nur die Handwerker litten besonders unter dem Arbeitskräftemangel und den fehlenden Aufträgen; viele suchten in den Fabriken einen Zusatzverdienst. Die Erfolge im Frühjahr 1918 im Osten und Westen verströmten nochmals hoffnungsvolle Zuversicht.
Eine breite Mehrheit der Bevölkerung zeigte sich bereit, weiter auszuhalten. Die „erfolgreichen Angriffskämpfe im April 1918“ hätten die Stimmung in dem Bewusstsein gehoben, „jetzt oder nie durch Waffengewalt eine günstige Wende“ des Krieges zu erreichen. Nur hier und da äußerten ältere Landsturmmänner auf Urlaub den Wunsch nach einem schnellen, notfalls auch bedingungslosen Frieden, ließen sie sich doch weniger von den zensierten Frontberichten täuschen.
Propaganda und Zensur verhindern eine allmähliche Vorbereitung der Bevölkerung auf die sich abzeichnende Niederlage
Nach dem „schwarzen Freitag“ am 8.8.1918 und dem tiefen Einbruch der Engländer bei Amiens verkaufte nämlich die OHL den Rückzug der deutschen Truppen als einen Plan der „strategischen Defensive“, um den „Kriegswillen der Feinde zu lähmen und ihn so mählich zum Frieden zu bringen“ (Tormin, 52). Der amtliche Bericht in der von Johannes Düppen vor vier Monaten übernommenen Oberkasseler Zeitung (OZ) nannte die Aufgabe der großen Geländegewinne der Frühjahrsoffensive als das von der OHL „von Anfang an gesteckte Ziel, die Zermürbung der feindlichen Streitkräfte bei größtmöglicher Schonung der eigenen Truppen der Verwirklichung näher zu bringen“. Den Oberkasselern vermittelte man einen „vollen Erfolg der deutschen Waffen“, so dass die „Gesamtlage günstig und vertrauensvoll“ zu beurteilen sei. „Ungeschwächt an Kampfeskraft und Selbstvertrauen“ sähen „Führung und Truppe den noch bevorstehenden Kämpfen entgegen“.
Düppen fühlte sich denn auch bemüßigt, seine Leser zu ermahnen, „stark [zu] bleiben!“ und nicht mit Missstimmung und Nervosität die Soldaten an der Front anzustecken. Die in der englischen Presse erhobene Forderung, die Deutschen sollten sich aus allen besetzten Gebieten zurückziehen und Reparationen für die begangenen Schäden leisten, tat er als „englische Frechheit“ ab, „die auch noch gezähmt“ würde.
Niemand in Oberkassel hatte allerdings erfahren, dass schon Anfang September Ludendorff in der OHL zugegeben hatte, er wisse nicht, „wie er den Kampf in der jetzigen Größe noch weitere vierzehn Tage weiterführen solle“, ohne allerdings dem Kaiser und dem Auswärtigen Amt reinen Wein einzuschenken (Tormin, 54). Am 1.10.1918 musste Ludendorff seinen entsetzten Mitarbeitern in der OHL die „endgültige Niederlage“ und das Verlangen nach einem sofortigen Waffenstillstand eingestehen. Mit Hindenburg verabredete er die „Revolution von oben“, die Einführung einer parlamentarischen Monarchie durch Beteiligung der Parteien an der zukünftigen Regierung, die nun die Verantwortung für die Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen übernehmen sollte. Da der amerikanische Präsident Wilson auch nur mit Vertretern des deutschen Volkes verhandeln wollte, konnte sich die militärische Führung „der Mitwirkung an der bedingungslosen Kapitulation … entziehen“. Am 26.10.1918 nahm Ludendorff seinen Abschied (Tormin, 56 – 65).
Schwierige Bewältigung des Familienalltags
Nücker sprach von einer „völlige[n] Verständnislosigkeit und Gleichgültigkeit“ der Oberkasseler Bevölkerung „gegenüber den auf Umgestaltung unserer Verfassung gerichteten Bestrebungen“. Den Grund sah er in den „Sorgen des Alltags“ und dem „Fehlen jeder Agitation“. Diese Sorgen um die Bewältigung des Alltags der Familien, die das Leben der Oberkasseler Familien bestimmten, spiegelten sich auch in der OZ wider. An der Schwelle zum 5. Kriegsjahr trat Düppen erstmalig aus seiner redaktionellen zurückhaltenden Anonymität heraus, wenn man von seinen wöchentlichen „Sonntagsgedanken“ absah. Am 30.7.1918 gab er dem Leser einen Einblick in die Innenansicht seiner Familie und damit stellvertretend für alle Oberkasseler, indem er als „Euer Hannes vom Rhein“ in satirischer Form sich der Alltagssorgen der Hausfrauen annahm. Vor einiger Zeit sei er auf Anraten seiner Frau nach Oberkassel gezogen, weil es in dieser Landgemeinde im Siebengebirge noch „alles in Hülle und Fülle“ und „obendrein eine herrlich frische Luft“ gebe. Mittlerweile sei ihnen aber nur die frische Luft geblieben. Seine schimpfende Frau, ihre wehklagende Haushaltshilfe und zahlreiche Briefe an ihn hätten ihn aufgefordert, „den Herren am grünen Tisch in Berlin“ einmal die schlechte Lage der sog. Landgemeinde Oberkassel vor Augen zu führen. Die Hausfrauen, die nur über ein Paar Meter Garten verfügten und darauf angewiesen seien, ihren Bedarf an Gemüse anderswo zu decken, fänden schlimmere Zustände als in der Großstadt vor. Düppens Haushaltshilfe brauche täglich 2 – 3 Stunden, um für das Mittagessen das nötige Gemüse zu besorgen. Mehrmals sei sie sogar leer ausgegangen, in den übrigen Fällen hätte sie völlig überhöhte Preise gezahlt. 6 bis 8 Mark für den Mittagstisch einer achtköpfigen Familie sei keine Seltenheit. Die Berichte in den Zeitungen über Höchstpreise für Gemüse, Obst, Kartoffeln usw. seien ein „Schwindel“. Die Hausfrauen müssten das Ernährungssystem selbst in die Hand nehmen, um „mit all den unglücklichen Verordnungen und Bestimmungen energisch“ aufzuräumen nach dem Grundsatz „Einer für alle, alle für einen“.
Die deutsche Hausfrau, resümierte Düppen anerkennend, „hat sich unzweifelhaft Lorbeeren erworben in diesem Kriege. Das steht fest. Bisher in der Defensive, gegenüber den stürmischen Angriffen der Lebensmittelknappheit auf das Haushaltungsgeld. Hoffen wir, daß sich unsere Hausfrauen nicht zur Offensive verleiten lassen. Unsere Hausfrauen, besonders die ungünstiger gestellten, haben unter Not und Sorgen und schwer lastendem Druck dem Vaterland die Treue gehalten. Das sind auch Helden, würdig der großen Zeit“.
„Wucherei“, „Schleichhandel“
und Hamsterfahrten
Selbst in den eher religiösen Betrachtungen gewidmeten „Sonntagsgedanken“ schimpfte Düppen, dass „für alle Gegenstände, die nicht der Zwangswirtschaft unterliegen, die Preise fortgesetzt in zuweilen wahnsinnig anmutender Weise steigen… Aus purer Angst verhungern zu müssen, stapeln so viele an Lebensmittel weit mehr auf, als sie es in Friedenszeiten je getan haben und nehmen so den anderen den auch diesen zustehenden Anteil… Den Wucherern wird so in die Hände gearbeitet“. Es gab ständig neue Vorschriften, die das Hamstern und die Wucherei verhindern sollten. Die Obst- und Gemüsehändler im Siegkreis mussten unter Androhung von Strafe außen „auf leserlichem Aushang den genauen Verkaufspreis sowie den vorgeschriebenen Höchstpreis“ anbringen. Mitte August wurde das Gewerbe des Gemüsehändlers Boist auf der Römlinghovener Straße auf Anordnung der Aufsichtsbehörde geschlossen. So durften z. B. Preisel- und Waldbeeren sowie Pflaumen, Äpfel, Birnen im Sommer 1918 nicht halbreif oder Kartoffeln vor dem 1.7. geerntet werden, damit sie nicht zu Wucherpreisen im „Schleichhandel“ vorzeitig verkauft werden konnten und anschließend Versorgungsengpässe entstanden. Der Landrat warnte mehrmals die Landwirte bzw. Selbstversorger im Siegkreis, Kartoffeln, Butter und Eier an „Schleichhändler und Hamsterer“ abzugeben, so dass sie ihr Ablieferungssoll nicht mehr erfüllen könnten. Notfalls müsste ihre eigene Versorgung gekürzt werden. „Zuwiderhandelnden“ drohte eine Gefängnisstrafe von bis zu 6 Monaten oder 1.500 Mark. Der Erfolg blieb aus.
„Aus Hamsterfahrten sind Raubzüge geworden“. Man eigne sich alles an, was erreichbar war: Äpfel von den Bäumen, Spätkartoffeln von den Feldern, Körnerfrüchte aus den aufgestülpten Haufen, Ähren von den Halmen. Angesichts der Hamsterfahrten für Kartoffeln und Brotgetreide sprach die OZ am 18.10. von der „Überschwemmung des platten Landes mit Kartoffelhamsterern“ und einer „nationalen Gefahr durch Schleichhandel und Schleichversorgung“, da die Überschussgebiete nicht mehr genug abliefern konnten. Diebstähle nähmen „in letzter Zeit überhand“, Eier, Butter, Wein, Zigarren, Wäsche, Wein aus den Häusern, „Flurdiebstahl“ in Gärten und Feldern, „räuberische Überfälle auf Güterzüge“, um vor allem Kartoffeln zu organisieren. Bürgermeister Nücker wollte, falls „Eigentümer“ es wünschten, eine zweite Nachtwache einrichten.
Zunehmende Unzufriedenheit über die Zwangsbewirtschaftung
Düppen machte sich auch zum Sprachrohr seiner mit der „trostlosen, fettlosen Zeit“ unzufriedenen Mitbürger. Von Mitte August an war nämlich abwechselnd eine „fleischlose Woche“ dekretiert worden. Die Regierung ging davon aus, dass in den Landgemeinden und kleineren Städten eine stärkere Versorgung aus den umliegenden ländlichen Bezirken möglich war. Die Oberkasseler erhielten daher nur zwischen 135 und 155 g; in der fleischlosen Woche gab es dann als Ersatz manchmal Mehl oder Kartoffeln. Wegen der Hamsterei oder des Schleichhandels war aber Fleisch, wenn überhaupt, nur zu hohen Preisen zu kaufen. Gleichwohl gab Düppen die Parole aus: „Wir lassen uns also nicht runterkriegen trotz fleischloser Wochen“. Kein Wunder, dass die große „Kaninchen- und Produktenausstellung“ am 27./28.10.1918 auf besonderes Interesse der Oberkasseler stieß.
Die Zwangsbewirtschaftung des Herbstgemüses wurde als äußerst ärgerlich empfunden. Düppen empfahl daher seinen Lesern, sich einen Vortrag über „Wildgemüse“ anzuhören, da in der Bürgermeisterei für „Höchstpreise und gute Worte“ fast kein Gemüse zu erhalten war, „wohl aber für Fantasiepreise, die jeder Beschreibung spotteten“. Angesichts des Mangels an jungem Gemüse wurde der „Wilde Wein“ als Ersatz angepriesen. Wie Spinat zubereitet, im Geschmack aber eher dem Sauerampfer ähnelnd, soll er angeblich als Gemüse geschätzt worden sein. So diente z. B. die Runkelrübe als „billiger und guter Kaffeeersatz“: roh waschen, in Würfel schneiden, auf Backblech in die Bratröhre, Türe zwischendurch mal öffnen, damit die Feuchtigkeit entweicht, Würfel fast schwarz rösten und in der Kaffeemühle mahlen. Das habe ein kaffeeähnliches Aroma, da den Rüben Zichorie entströme. Als Zusatz zu gebrannter Gerste sei es „vorzüglich“ geeignet. Auch die Streckung der Marmelade mit Mohrrüben für das Jahr 1919 versprach nichts Gutes, denn schon die vor zwei Jahren mit Kohlrüben gestreckte Marmelade wollte niemand essen.
Die Ablieferungszwänge und ständig neuen Verordnungen zur Ersatzbeschaffung erhöhten den Unwillen der Bevölkerung an der Schwelle des 5. Kriegsjahres. So musste die Bürgermeisterei Oberkassel 165 Anzüge für die arbeitende Bevölkerung im Juni 1918 abliefern. Da aber bisher bei Schneidermeister Stephan Werker nur 6 eingegangen waren, drohte Nücker nach dem 1.7. eine zwangsweise Ablieferung an. Am 12.7. fehlten immer noch ca. 40 Anzüge, so dass nach dem 15.7. Nücker eine Bestandsaufnahme in den Haushaltungen ankündigte; schließlich musste die Abgabefrist bis zum 15.8. verlängert werden, wobei Gutsituierte auch 2 Anzüge abgeben sollten. Um Leder und Wolle für den kommenden Winter zu sparen, wurde im August die Losung für die Ferienzeit ausgegeben: Barfußgehen sei vaterländische Pflicht. Es härte außerdem ab, sei eine gute Fußpflege und verhindere Schweißfüße. Dabei wurde die „innige Berührung unseres Körpers mit der Mutter Erde“ gepriesen. Lehrer G.A. Brinkmann organisierte mit Schülern Haussammlungen, z.B. Altpapier, Flaschen, Glühbirnensockel, Frauenhaar, Gummiabfälle, Knochen, Kork, Obstkerne, Metalle. Einrichtungsgegenstände aus Kupfer und Kupferlegierungen wurden beschlagnahmt und „enteignet“.
Besonders hart traf die durch Unterernährung gesundheitlich geschwächte Bevölkerung die „Wiederkehr der spanischen Influenza“, die von „typhusähnlichen Krankheitserscheinungen“ begleitet war. Vom 15.10. bis 10.11.1918 mussten die Schulen geschlossen werden. Von Mitte Oktober bis Mitte November häuften sich in auffälliger Weise die Todesanzeigen in der OZ. So starben während dieser Zeit (mindestens) 19 Oberkasseler, meist jüngere Leute, darunter auch drei verwundete Soldaten, die im Lazarett auf ihre Rückkehr warteten. „In einer Woche lagen 14 Menschen auf der Totenbahre“ (Schulchronik 1918). In der preußisch-hessischen Staatseisenbahn meldeten sich „infolge Grippe“ 45.000 Bedienstete dienstunfähig, so dass der Fern- und Nahverkehr stark eingeschränkt war und nur absolut notwendige Reisen angemahnt wurden. Mit 1918 endete außerdem das Jahr mit der höchsten Zahl der gefallenen Oberkasseler (50).
in englischer Gefangenschaft
Hoffnung auf einen Frieden, der dem starken Selbstbewusstsein der Deutschen entsprach
An der Schwelle des 5. Kriegsjahres stellte Bürgermeister Nücker fest: Die „aufregenden Parteiversammlungen, die Wirtshauspolitik und die Hetzreden der kleinen und großen Führer, die im Frieden unsere parlamentarischen Umwälzungen begleitet hätten, fehl[t]en jetzt“. Das Vereinsleben ruhte meistens. Die Zeitungen schrieben vornehmlich über die Kriegslage und eventuelle Friedensverhandlungen; den amtlichen Zeitungsberichten begegnete man mit immer größerem Misstrauen. „Es lebt jetzt jeder ruhiger und mehr für sich, ist in seinem Denken mehr auf sich selbst gestellt“. Das übe eine „wohltätige und beruhigende Wirkung aus auf die Bildung der politischen Ansichten der einzelnen Bürger“.
Die OZ berichtete zwar am 4.10.1918 über das neue Kabinett des Reichskanzlers Prinz Max von Baden und der Vertreter der Mehrheitsparteien, das dem deutschen Volk den gewünschten Frieden geben wollte, sowie am 8.10.1918 über die Friedensnote an Präsident Wilson und deren positive Bewertung, über Reaktionen in Oberkassel erfahren wir nichts. Die amtliche Berichterstattung bestärkte noch Mitte Oktober den ahnungslosen Leser der OZ: „voller Abwehrsieg“, „ein besonders blutiger Rückschlag“ der Entente, „deutscher Abwehrerfolg im Westen“. In den wöchentlich erscheinenden „Sonntagsgedanken“ wiederholte Düppen am 11.10.1018 die weit verbreitete Überzeugung von den Ursachen des Krieges. „Daß man uns nicht liebte in Rußland, daß man uns haßte in Frankreich…, daß man in England scheel sah zu unserem gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwunge, das wußten wir“. Ihn erstaunte nun die „Hetze“ der Entente gegen ein Land und Volk, das „nichts anderes verbrochen hatte, als daß es in langer Friedenszeit sich entwickelt hatte in geistiger, wirtschaftlicher und kultureller Beziehung zum ersten der Erde“. Düppen beklagte den „Verrat“ der Rumänen und Italiener, ohne allerdings die Hoffnung zu verlieren: „Der Starke ist am mächtigsten allein… Wir werden unser Recht,… unsere Freiheit… mit Erfolg verteidigen“. Eine Woche später mahnte er, das deutsche Friedensangebot dürfe „keinen Eindruck der Schwäche“ auslösen in der Überzeugung, dass die Front „gehalten wird trotz der gewaltigen Anstrengungen“ der Feinde. Bedingung sei, dass hinter dem Friedensangebot „einmütig und geschlossen die Stärke des deutschen Volkes“ stehe.
Im Rahmen der von G. A. Brinkmann geleiteteten Vortragsreihe in der Kalkuhlschen Realschule bekräftigte Dr. Petry am 25.10.1918 die in (besonders protestantischen) bürgerlichen Oberkasseler Kreisen vorherrschende Meinung, dass „der Krieg nicht von Deutschland verschuldet und betrieben worden ist, sondern von England“, das seit den 96er Jahren „planmäßig“ darauf hingearbeitet habe, „die deutsche Industrie und den deutschen Außenhandel zu vernichten“. Deutschland könne jetzt nur einen Frieden annehmen, der ihm gestatte, „die früheren Wirtschafts- und Handelsbeziehungen wieder aufzunehmen, unter Wahrung seiner deutschen Ehre“. Deutschland brauche jetzt, um einen „ehrenvollen Frieden“ zu schließen, „Zusammenschluß und Einigkeit“. Nach dem großen Beifall des Publikums ermahnte es Düppen in Vertretung für den erkrankten Brinkmann, „in der ernstesten Stunde nicht zu verzagen und den alten deutschen Mut zu bewahren“. Hatte er doch kurz vorher noch die amtliche Version von den besonderen Vorteilen der „deutschen Frontverkürzung“ veröffentlicht.
In voller Übereinstimmung veröffentlichte Düppen noch am 29.10.18 die „Gedanken eines Parlamentariers“ über „Das neue Deutschland“ mit der Einführung der parlamentarischen Monarchie. Diese friedliche Revolution sei ein „Beweis für die Reife des Volkes, daß die Umwälzung in Ruhe“ erfolgte. Noch sei Deutschland groß und stark, hoffentlich kämen die deutsch-österreichischen Landesteile zum Deutschen Reich. „Mitteleuropa war ein Traum, Deutsch heißt die Parole“.
Über Reaktionen aus dem Arbeitermilieu auf die „parlamentarischen Umwälzungen“ ist nichts zu erfahren. Interessant dürfte allerdings die Feststellung gewesen sein, in den gewerkschaftlichen Arbeiterkreisen wachse „der Wille zur Vaterlandsverteidigung mit der Zunahme der Schwierigkeiten“. Das Zentralorgan der sozialdemokratischen Gewerkschaften, „Korrespondenzblatt“, warnte nämlich vor einem „Triumph des anglo-französischen Imperialismus“, der durch einen Diktatfrieden Deutschland in den Ruin treiben würde. Diese Gefahr müsse abgewehrt werden, denn der Weg gehe nur durch einen „Systemwechsel“: „Das System muß fallen, weil wir den Krieg siegreich beenden wollen“.
Oberkasseler Arbeiterschaft: vorwiegend Anhänger der christlichen Gewerkschaften
Nach Nücker wollten die Oberkasseler nichts wissen von den „socialdemokratischen Richtungen“; wo sich „socialdemokratische Gesinnung“ vorfinde, bewege sie sich „durchaus im gemäßigten und vaterländischen Rahmen“. Der letzte Streik hätte keinen Boden gefunden. Die Oberkasseler Arbeiterschaft, mehrheitlich katholisch, orientierte sich eher an den christlichen Gewerkschaften, die sich dem Zentrum verbunden fühlten. Ende September 1918 kam es zu empörten Reaktionen von Dollendorfer Arbeitern über den Widerstand bürgerlicher Kreise, einen modernen Verladekran unmittelbar vor den Niederdollendorfer Rheinanlagen aufzustellen, um die durch den Krieg bedingte stärkere Nutzung der Wasserstraße zu erleichtern. Trotz des ländlichen Charakters sei der größte Teil des Siegkreises auf die tägliche Arbeit in der Industrie und den gewerblichen Betrieben angewiesen. Die Interessen der „produktiven Arbeit“ hätten Vorrang vor den Bedürfnissen des „Fremdenortes“ Dollendorf. Auf der gut besuchten Protestversammlung am 6.10.1918, zu dem die Ortsgruppe Ober- und Niederdollendorf des Zentralverbandes christlicher Keram- und Steinarbeiter eingeladen hatte, verwies der Kölner Gewerkschaftssekretär Fromm auf die besondere Bedeutung der inneren Umgestaltung Deutschlands hin und ermahnte die Anwesenden, die dringend notwendige Organisation der Arbeiterschaft zu verwirklichen. In der Tat erfolgten am Ende der Versammlungen zahlreiche Anmeldungen zu dem christlichen Verband.
Auch in Oberkassel hatten sich am 13.10.1918 viele Arbeiter zu einer Gewerkschaftsversammlung im katholischen Vereinshaus eingefunden, um sich am Ende auch hier in die christliche Gewerkschaft aufnehmen zu lassen. Schon eine Woche später lud der Zentralverband christlicher Keram- und Steinarbeiter die „Arbeiter aller Berufe“ ins Vereinshaus ein, um sie über die nächsten Aufgaben der christlichen Gewerkschaftsbewegung zu unterrichten. Die neue Zeit stelle die Arbeiterschaft „vor gewaltige Aufgaben, denen der einzelne völlig hilflos gegenüberstehe“.
Trotz „fieberhafter Spannung“
„Ruhe und Besonnenheit“ in Oberkassel
Seit Anfang November 1918 war auch in Oberkassel eine spannungsgeladene Atmosphäre zu verspüren. Die Zwischenzeit bis zum Eintreffen der Waffenstillstandsbedingungen wurde in der OZ als „Belastungsprobe schwerster Art“ vermittelt. „Gegenwärtig lastet mit unendlicher Sorge auf uns die Kaiserfrage“. „Der ernsten Zeit ernstes Gebot“ hieß: „Nur keine unüberlegten Schritte“. Inzwischen waren auch die Bestimmungen zum Versammlungsverbot und zur Zensur stark abgemildert worden, sofern sie nicht dem Interesse der Kriegsführung, des Friedensschlusses und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung entgegenstanden. Düppen schilderte am 5.11.1918 die „ungeheure Erregung“ und „fieberhafte Spannung“ in der ganzen Bevölkerung: „Die politische Erregung ist bis zur Siedehitze gediehen. Auf alle Lippen drängen sich die Fragen: Was wird werden? Welche Bedingungen, welche Lasten werden unserer Feinde uns auferlegen? Wie wird die kommende Zeit aussehen?“ Die Meinung von Arbeiter- und Bürgertum in der Bürgermeisterei sei: „Eine neue Zeit kommt herauf … Im Vordergrund steht die Einheit der deutschen Nation, des deutschen Volkes, steht der starke Glaube an die Kraft der deutschen Kultur. Rückständiges, Überlebtes, das, was zusammengebrochen ist und was noch zusammenbricht, das muß verschwinden“. Das Oberkasseler protestantische Bürgertum setzte auf die Erhaltung des Kaisertums. Die meisten Katholiken, die überwiegend dem Zentrum nahestanden, wünschten sich die Umbildung zu einem „wahren sozialen Kaisertum“. Für sie hätte der Verzicht auf die Monarchie „Zersetzung und Auflösung des Staatslebens“ zur Folge. „Arbeitsamkeit, Gesittung, Liebe zur großen Gemeinschaft, das wird auch künftighin die Richtschnur des deutschen Volkes sein“, glaubte Düppen; seine Losung hieß in dieser Zeit politischer Hochspannung ebenfalls: „Ruhe bewahren!“.
So mahnte auch das Cartell der christlichen Gewerkschaften Kölns: „Wahrt die Ruhe … Geht ruhig eurer Arbeit nach“. Die Vertreter des Zentrums in Siegburg riefen dazu auf, „Ruhe und Ordnung zu bewahren und mitzuwirken, daß der staatliche Zusammenhang nicht auseinanderfalle“. Das erschien umso dringender, als am 7.11.1918 nachmittags „größere Abteilungen revolutionärer Massen aus Kiel, Hamburg und anderen Orten“ in der Garnisonsstadt Köln eingetroffen waren, Offiziere und Mannschaften „ohne Widerstand“ entwaffneten und eine „unübersehbare Menschenmenge“ auf dem Neumarkt veranlasste, zu den Aufständischen überzugehen. Die Vertreter der Mehrheitssozialisten unter Wilhelm Sollmann versuchten die unzufriedenen Massen unter Kontrolle zu halten und einigten sich mit den Unabhängigen Sozialisten und Soldaten am 8.11.1918 auf die Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrates. Dieser beschloss, alle Behörden unter Kontrolle und den Behördenleitern Volksbeauftragte zur Seite zu stellen.
In „Deutschlands Schicksalsstunde“, so erfuhren es die Oberkasseler aus der Zeitung, zog „über ganz Deutschland … eine revolutionäre Bewegung der Massen“, die im „allgemeinen ruhig“ verlaufe. Die Sozialdemokratie hätte, nachdem die Abdankung des Kaisers erfolgt sei, die Verpflichtung übernommen, die Ordnung im ganzen Reiche wiederherzustellen. Zentrum und die beiden liberalen Parteien würden sich fügen. „Das gesamte Bürgertum übt erste Zurückhaltung“. Nachdem der Mehrheitssozialist Scheidemann am 9.11.1918 unter dem Eindruck der revolutionären Massen vom Reichstag aus die Republik ausgerufen hatte, floh der Kaiser anderntags nach Holland.
Am 9.11.1918 wies der Kölner Regierungspräsident – im Einvernehmen mit dem Innenminister – alle nachgeordneten Dienststellen auf die Pflicht der Behörden hin, „ohne Rücksicht auf die politischen Vorgänge weiter zu arbeiten“, insbesondere für die Ernährung der Bevölkerung zu sorgen und die Industrie von der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft im Verein mit Arbeitgebern und –nehmern vorzubereiten. Von Köln aus griff die revolutionäre Bewegung im Rheinland schnell um sich. Die alten Gewalten gaben kampflos auf und stellten sich in den Dienst der überall gegründeten Arbeiter- und Soldatenräte.
Der letzte „Kampfbericht“ aus dem „Großen Hauptquartier“ schloss am 11.11.1918 mit den Worten: „Infolge Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrages wurden heute mittag an allen Fronten die Feindseligkeiten eingestellt“. Als die Waffenstillstandsbedingungen den Oberkasselern bekannt wurden, hielten sie sie für „außerordentlich schwer, … einer Kapitulation sehr nahe. … Sie bestätigen uns den Zusammenbruch all der Hoffnungen, die wir Jahre lang … hegen mußten, weil man uns von maßgeblicher Stelle … eingenebelt hatte, sodaß wir nicht schauen konnten, wie die wirkliche Sachlage war. Wir haben uns alle“, so resümierte Düppen etwas resigniert, „das Ende dieser grausigen Zeit anders und heller gedacht, und es wird allen Mutes und Selbstvertrauens bedürfen, um über diese dunklen, schicksalschweren Stunden hinwegzukommen“.
Bisher hatten die Oberkasseler mit „Ruhe und Besonnenheit“ auf die „großen politischen Umwälzungen“ reagiert. Dass dies so bleiben müsse, darin waren sich alle Verantwortlichen in der Bürgermeisterei einig. In ihrem Einvernehmen richtete Düppen die Mahnworte der Frauenvereine an die Frauen Oberkassels: „Hütet Haus und Herd, … hütet Eure Kinder! Bewahret sie vor den Einflüssen der Straße, sorgt mit für Ruhe und Ordnung, bleibt stark und vermeidet unnützes Reden und Klagen! … Eine große Gefahr bilden bei diesen Umwälzungen die ruchlosen Elemente, die Städte und Dörfer heimsuchen und ihr unsauberes Handwerk ausüben. Eigentum, Haus und Hof vor diesen Elementen zu schützen, ist daher heiligste Pflicht eines jeden Bürgers“. Die Furcht vor planlos zurückflutenden Truppenteilen und fliehenden Zivilpersonen aus den ehemals besetzten Gebieten im Westen war groß. Wegen der allgemeinen „Unsicherheit“ wollte Bürgermeister Nücker eine Nachtwache einrichten, die aber nur Sinn machte, wenn sie auch von „Überfällen, Diebstählen und Einbrüchen“ sofort benachrichtigt würden. Er beantragte daher beim Kaiserlichen Postamt, das Telefon auch nachts benutzen zu können. Nücker appellierte an die gesamte Bürgerschaft, sich unverzüglich „in den Dienst zum Schutze für Heimat und Herd“ zu stellen, ehe es zu spät sei.
Am 13.11.1918 warnte er außerdem die Oberkasseler, wegen der drohenden Kartoffelknappheit nicht mehr als 7 Pfund pro Woche zu verbrauchen. Da die Zufuhr bald ganz aufhöre, könnten nur die Leute Kartoffeln bekommen, die noch keine 2 ½ Ztr. pro Person erhalten hätten. Darüber hinaus würden am 16.11.1918 nur 135 Gramm Rindfleisch einschließlich Wurst auf der Reichsfleischkarte ausgeteilt. Den Landwirten, die mit der Ablieferung von Roggen, Weizen und Hafer im Rückstand waren, drohte Nücker mit militärischen Kommandos, die das Dreschen übernehmen würden.
„Unbedingtes Fernhalten jeder Störung der Sicherheit und Ordnung“ als Aufgabe des Arbeiter-, Bürger- und Soldatenrates in Oberkassel
Inzwischen hatten sich auch alle bisherigen militärischen Dienststellen des Siegkreises einem Arbeiter- und Soldatenrat zur Verfügung gestellt, der sie in ihren Funktionen unterstützte. Der Soldatenrat war nun oberste Behörde in militärischen Angelegenheiten. Die Garnisonskompagnie Siegburg, einschließlich der Schutzmannschaften der einzelnen Bürgermeistereien des Siegkreises und der noch zu gründenden Bürgerwehren, übernahm nun den militärischen Sicherheits- und Ordnungsdienst. Militärische Abzeichen außer Waffen durften wieder angelegt werden. Gemäß Befehl des Garnisonskommandos und des Soldatenrates vom 14.11.1918 durften Offiziere neben ihren Gradabzeichen wieder Waffen tragen. Die Truppenteile sollten sich „für den in größerem Umfang auszuübenden Wach- und Sicherheitsdienst die genügende Anzahl umsichtiger und körperlich rüstiger Offiziere sichern“. Der Soldatenrat wollte „seine ganze Kraft für die Behaltung der Ordnung, den Schutz der Personen und die Wahrung des Privateigentums“ einsetzen.
Nücker hatte inzwischen schon Kontakt mit Vertretern des Bonner Arbeiter- und Soldatenrates aufgenommen, um Schützenhilfe für die Bildung eines Oberkasseler „Arbeiter-, Bürger- und Soldatenrates für den Umfang der Bürgermeisterei“ sowie Mannschaften, Bekleidung, Ausrüstung, Armbinden und Taschenlampen für die „Wehr“ zu erhalten. Vertreter des Siegburger Soldatenrates, die sofort in Oberkassel vorstellig wurden, waren mit der Maßnahme Nückers einverstanden, eine „Arbeiter-, Bürger- und Soldatenwehr“ zu bilden. Am 10.11.1918 rief daher der Bürgermeister die Oberkasseler auf, um „Eigentum, Haus und Hof“ zu schützen, eine solche Wehr zu gründen. „Alle Männer über 21 Jahre, arm und reich“ sollten der Wehr beitreten und sich bis spätestens 14.11.1918 auf dem Rathaus in die Listen eintragen. Den Wachen werde eine angemessene Entschädigung gezahlt. Für den 14.11.1918 rief er eine Versammlung in der Wirtschaft Hübel ein, um einen „Arbeiter-, Bürger- und Soldatenrat“ zu wählen.
Ebenso war den Verantwortlichen bewusst, dass es nun die Hauptaufgabe der Arbeitgeber war, den heimkehrenden Soldaten wieder eine Arbeitsgelegenheit zu bieten, denn der Frieden bringe bei allen kapitulationsähnlichen Bedingungen neue Arbeitsmöglichkeiten. „Was die Waffen nicht vermochten, das werden die Werkzeuge friedlicher Betätigung zustande bringen, das Reich aus tiefer Erniedrigung wieder in die Höhe zu führen“. Nücker lud daher alle Arbeitgeber der Bürgermeisterei am 13.11.1918 in die Wolfsburg ein, um über „die Beschäftigung der heimkehrenden Krieger und der durch die Einstellung der Kriegsindustrie frei werdenden Arbeitskräfte, sowie über die Einrichtung eines Arbeitsnachweises“ zu beraten (OZ 1918, 91).
Am 14.11.1918 telegraphierte die preußische Regierung an alle nachgeordneten Stellen einen Erlass über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden mit den Arbeiter- und Soldatenräten, nach dem die Vertreter der Räte „den einzelnen Verwaltungsbehörden zur Seite zu treten haben und bei den wichtigen Verhandlungen zuzuziehen sind. Die Form dieser Zuziehung wird sich vom Standpunkt gegenseitiger loyaler Unterstützung im Einzelnen leicht finden lassen, wenn dabei das Ziel unbedingter Fernhaltung jeder Störung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Auge behalten wird“. Bei den kommunalen Verwaltungen sollten „gemischte Deputationen unter Beteiligung stimmfähiger Bürger“ gebildet und „interessierte Persönlichkeiten“ herangezogen werden.
Zu der Oberkasseler Versammlung am 14.11.11918 waren so viele „Bürger aus allen Ständen, Soldaten und Vertreter des Soldatenrates“ gekommen, dass der Saal Hübel „die Erschienenen nicht fassen konnte“. Nücker sprach die vorher mit dem Soldatenrat getroffenen Vorkehrungen über die drängendsten Probleme an: „die Lebensmittelversorgung, die Beschäftigung Arbeitsloser und die Sicherung von Hab und Gut der Bürgerschaft“. Letztere sei nötig, da in den beiden letzten Nächten 13 Diebstähle vorgekommen waren. Die Anmeldungen zur Ausübung des Sicherheitsdienstes seien „recht zahlreich“ erfolgt, so dass die Bürgerschaft beruhigt sein könne. Dem anschließend gewählten Arbeiter-, Bürger- und Soldatenrat gehörten an: Bürgermeister Nücker, Hauptmann der Reserve, als dessen Vertreter Beigeordneter und Fabrikant Hugo Hüser sowie Fabrikarbeiter Josef Ronig aus Oberkassel, Winzer und Grubenverwalter Hermann Hillebrand aus Oberdollendorf, Landwirt und Gemeindevorsteher Paul Staffel aus Niederdollendorf und Kohlenhändler Peter Schonauer aus Heisterbacherrot. Aus der Versammlung wurde allerdings Kritik laut, nicht alle Gewählten seien „unabhängig“ und könnten „nach jeder Richtung hin frei auftreten“. Am 28.11.1918 legten 90 Männer beim AS-Rat des Siegkreises sogar Beschwerde ein, die Wahl sei nicht ordnungsgemäß erfolgt.
Der Siegburger AS-Rat ernannte Hillebrand zum Obmann des ABS-Rates der Bürgermeisterei Oberkassel. Alle eingehenden Schriftstücke in Verwaltungssachen waren von ihm gegenzuzeichnen. Der Oberkasseler ABS-Rat war alles andere als ein von der USPD gewünschtes revolutionäres Kampforgan, und er trug den Zusatz „Bürger“ insofern zu Recht, als ihm keine Vertreter der Mehrheitssozialdemokratie angehörten. Die Chronik der Pfarrgemeinde St. Cäcilia charakterisierte ihn als „harmlosen, aber kostspieligen Bürger-Soldaten–Arbeiterrat“. Ronig war allenfalls Mitglied der christlichen Gewerkschaften, der Rest kam aus dem bürgerlichen Lager und sympathisierte mit dem Zentrum und den liberalen Parteien. Letztlich waren es Vertreter der alten Ordnung, die sich in den Dienst der neuen Regierung stellten und vor allem dem Gemeinwohl verpflichtet fühlten. Als Aufgabe des A-B-S–Rates sahen sie an: „1. Aufrechterhaltung der Sicherheit, der Ruhe und Ordnung“. 2. Verpflegung der Bevölkerung und der heimkehrenden Krieger. 3. Unterkunft der heimkehrenden Krieger. 4. Verkehrswesen. 5. Anschluß an auswärtige Verbände in Cöln und Bonn, 6. Feindliche Einquartierung und Verkehr mit den feindlichen Besatzungsbehörden.“
Ein großer Teil forderte nämlich die Einberufung einer konstituierenden Nationalversammlung, die über die zukünftige Staatsform zu entscheiden hätte, und die Bildung einer neuen Regierung. Vor allem die bürgerlichen Kreise, die Handwerker, Kaufleute und die Vertreter der christlichen Gewerkschaften wollten innere Umwälzungen nicht billigen, die vom Wege des verfassungs- und gesetzmäßigen Handelns abwichen. Der jähe Umschwung von der mehrheitlich befürworteten Einheit des Hauses Hohenzollern mit Deutschland und der Kaiseridee zur Republik, die nach dem Willen radikaler linker Revolutionäre in eine sozialistische Räterepublik nach bolschewistischen Muster münden sollte, war schwer zu verkraften. Dass sich das bisherige Regierungssystem, das die „emporstrebenden Kräfte des Volkes“ von der Mitwirkung ausschloss, überlebt hatte, darüber waren sich die meisten einig. An dem Zusammenbruch trug der „deutsche Kastengeist … nach Meinung vieler die Hauptschuld“, der den Kaiser „wie eine chinesische Mauer“ umgab und das Volk in Unkenntnis ließ „über die tatsächlichen Verhältnisse in diesem furchtbaren Kriege. Der Presse wurde durch die Zensur in systematischer Weise die tatsächlichen Verhältnisse“ verschleiert. Noch ein Jahr nach dem Krieg schimpfte Düppen, „hätte man den Wert der Lokalpresse früher in der ihr zukommenden Weise zu würdigen gewußt, wäre die deutsche Presse … während der vier Kriegsjahre nicht in der unverschämtesten Weise von den in Frage kommenden führenden Männern irregeführt und nicht mit einer geradezu wahnsinnigen Zensur belegt worden“, wäre „manche Unzufriedenheit und Mißstimmung“ unterblieben.
Funktionierende Kommunalverwaltung unter Aufsicht und Mitarbeit des ABS-Rates
Nach der Versammlung im Saal Hübel hielt der ABS-Rat, in dessen Hände nunmehr die gesamte öffentliche Gewalt übergegangen war, noch am späten Abend weitere Besprechungen ab und erließ eine Reihe von Verordnungen: Aufrechterhaltung der Ordnung als „unbedingte Pflicht jedes Einwohners“; keine Streiks; bei Dunkelheit keine Kinder mehr auf den Straßen; für die jeweiligen Ortsteile besondere Sicherheitsausschüsse, die jeden Mitbürger über 21 Jahre zum Dienst heranziehen könnten; der Sicherheitsdienst auf den Tages- und Nachwachstuben sollte mit jeweils 6 Mk, der Patrouillendienst von 9 – 1 Uhr nachts und von 1 – 5 nachts mit 4 Mk bezahlt werden. Als Verantwortliche für die Sicherheitsausschüsse der Bürgermeisterei wurden gewählt: Für Oberkassel Kaufmann Wilhelm Thomas, Studiosus Carl Adrian, der am 28.11.1918 durch Techniker Carl Klein ersetzt wurde, Zimmerer Bernhard Wiegandt, der als einziger Mitglied der SPD und der freien Gewerkschaft war; für Ober- und Niederdollendorf als Vertreter Kaufmann Anton Engels sowie Wirt Paul Schäfer; für Heisterbacherrott Rendant Peter Josef Mohr, Friseur Josef Quardt und Werksführer Joh. Minten.
Diese verordneten noch am gleichen Abend: Waffentragen nur für Gendarmen, Wachmannschaften und die Männer der Sicherheitsdienste mit weißen Armbinden; Plünderer und Räuber werden erschossen; Schließung der Gastwirtschaften nach 10 Uhr abends; Straßenbeleuchtung nachts während der Dunkelheit; fremde Personen sind nachts von den Patrouillen aus dem Ort zu verweisen oder bei Verdacht festzusetzen. Die Tageswachen sind für Oberkassel auf dem Rathaus, die Nachtwachen in der Wolfsburg und im Institut Kalkuhl, alle telefonisch erreichbar.
Der Einladung Nückers an die Arbeitgeber der Bürgermeisterei am 13.11.1918 folgten „recht zahlreich“ Vertreter „sämtliche[r] größeren Firmen und fast alle[r] kleinen Betriebe“ (u.a. Geheimrat Julius Vorster, J.G. Adrian, Fa. Gebr. Uhrmacher, Fa. Hüser; Fa. Heilberg, Fa. Jakob Klein, Prov. Basaltwerke Peter Uhrmacher aus Oberkassel; Fa. Stellawerke aus Niederdollendorf, Fa. Rhein. Vulkan aus Oberdollendorf). Alle Anwesenden waren gewillt, den „heimkehrenden Kriegern Tür und Tor zu öffnen“. Man glaubte nicht nur alle Zurückkehrenden wieder beschäftigen zu können, sondern auch Auswärtigen Arbeitsmöglichkeiten zu bieten. Außerdem wurde die Einrichtung eines Arbeitsnachweises befürwortet, den der ABS-Rat am 17.11.1918 für alle Arbeitskräfte, auch für landwirtschaftliche Arbeiter, weibliche Personen und Dienstmädchen beschloss und dem Oberkasseler Sicherheitsausschuss übertrug. Selbst Arbeiten für kürzere Dauer (Feld- und Gartenarbeit) sollten auf dem Rathaus vermittelt werden. Als sehr schwierig erwies sich die Beschäftigung der aus der Kriegsindustrie entlassenen weiblichen Arbeitskräfte, zumal auch keine Näharbeiten mehr zu vergeben waren. Für die heimkehrenden Soldaten war zunächst das Problem leichter zu lösen, als nach dem Waffenstillstand die in den Betrieben beschäftigten Kriegsgefangenen, über deren „Faulheit und Widersetzlichkeit vielfach“ geklagt wurde, nicht mehr arbeiten wollten.
So hatten im Rheinischen Vulkan in Oberdollendorf die Gefangenen im Laufe der Woche vom 10.–16.11.18 „in steigendem Maße ihre Arbeitsleistung zurückgesetzt und zu etwa 1/3 eingestellt“. Die Inspektion der Gefangenenlager in Köln hatte noch am 16.11.18 den Verbleib in den Filiallagern und die weitere Arbeitsverpflichtung angeordnet. Die russischen Kriegsgefangenen sollten lt. Befehl vom 17.11.18 auf ihren Arbeitsstätten verbleiben und dort den Ententemächten übergeben werden. Bis zum Zeitpunkt der Ablieferung müssten sie weiterarbeiten; bei Arbeitsverweigerung hätte der örtliche Sicherheitsausschuss das Weitere zu veranlassen. Am 18.11.18 verweigerte die gesamte Belegschaft des Oberdollendorfer Lagers – ca. 85 Mann – die Arbeit. Das Wachtkommando sah sich außerstande, die Gefangenen „weder mit Güte noch mit Strenge“ zur Arbeitsstelle zu bringen. Die Gefangenen erklärten auf „Vorhaltungen, sie seien keine kleinen Kinder und wüssten ganz genau, wie die Verhältnisse liegen, und zur Arbeit hätten sie keine Lust mehr“. Das Wachtkommando wollte die Befehle vom 16./17.11.18 nicht ausführen aus Furcht vor den „schlimmsten Folgen für die Ordnung des diesseitigen Lagers und der Bürgermeisterei. Die gut verpflegten, aber nicht arbeitenden Gefangenen“ würden binnen Kurzem aus dem Lager brechen, „auf öffentliche Straßen gehen und sich in den Verkehr mischen“. Die Betriebsleitung des Rheinischen Vulkan hielt außerdem mit Hinweis auf „die starke Einquartierung auf dem Fabrikgelände bei dem beginnenden Durchzug des Westheeres nach Osten“ ein Festhalten der Gefangenen für nicht mehr durchführbar. Im „Interesse der allgemeinen Sicherheit“ musste sich daher der ABS-Rat um den sofortigen Abtransport der Gefangenen kümmern.
Am 19.11.1918 zog Düppen ein zufriedenes Fazit, weil sich die große Umwälzung kaum irgendwo bemerkbar mache. „Alles trägt das gewohnte Gepräge. Verkehrs- und Geschäftsläden, sowie die kommunalen Verwaltungszweige laufen in geordneten Bahnen, letztere teilweise unter Aufsicht oder Mitarbeit des A.-, B.- und S.-Rates. Die öffentliche Sicherheit ist nicht bedroht. Man kann auch nach Eintritt der Dunkelheit ruhig die Straßen durchschreiten. Der A.-, B.- und S.-Rat hat mit anerkennenswerter Entschlossenheit und sichtlichem Erfolg die schärfsten Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung getroffen. Die Spitzbuben scheinen unter der festen Hand des Rates erheblich weniger und dadurch die Sicherheit der Geschäftsleute der Bevölkerung überhaupt eine größere geworden zu sein.“
Als Träger der „Regierungsgewalt“ hatte der A-B-S-Rat im Zuge der Demobilisierung und der schlechten Ernährungslage mit vielen Schwierigkeiten und Hindernissen zu rechnen. „Da ist so manches zu klären, zu regeln und vorzubereiten, was bei der Plötzlichkeit der Entwicklung kaum mit genügender Ruhe behandelt werden konnte. Alltäglich wird die tiefgreifende Neuorganisation ausgebaut, die die zukünftige Neugestaltung der Verwaltung und Ausführung der neuen Gesetzgebung vorbereitet“. Der A-B-S-Rat hatte daher weitere Kommissionen gebildet, so dass Düppen „bei der zu Tage tretenden Besonnenheit auf ein gemeinnütziges Zusammenarbeiten des A.-, B.- und S.- Rates mit den bestehenden Verwaltungs-Organen“ rechnete.
Am 21.11.1918 beschloss der A-B-S-Rat, in Anwesenheit des Garnisonsältesten Leutnant Vaterrodt und des Führers des Kreissicherheitsausschusses Major Ernst aus Siegburg, einen Rundumwachtdienst durch gediente Männer über 21 Jahre einzurichten: Für die Tageswache von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends, die Nachtwache 12 Stunden anschließend, der Patrouillendienst abends 8 bis morgens 8 Uhr bei einer Vergütung für je 8 Mark. Außerdem sollte von nun an zu den Ratssitzungen als Vertreter der Presse Redakteur Düppen zugezogen werden. Um der drohenden Brennstoffknappheit vorzubeugen, sollten die Privatwaldbesitzer, die Winterholz schlagen lassen wollten, Arbeiter anfordern. Zur Steuerung der Kohlennot sah sich der Sicherheitsausschuss, der die Funktion der Ortskohlenstelle übernahm, veranlasst, alle Besitzer, die mehr als 10 Ztr. Kohlen oder Brikett hatten, aufzufordern, sich im Geschäftszimmer zu melden, damit über den Mehrbestand „nach Billigkeit“ verfügt werde. Schließlich gelang es dem Rat, einige Kraftwagen zu erhalten, um kleinere Mengen Kohlen bzw. Briketts zu den Oberkasseler Händlern zu bringen.
Anfang Dezember warnte das Reichsernährungsamt vor einem bevorstehenden Zusammenbruch der Ernährungswirtschaft. Die Kartoffelration könne höchstens bis zur Hälfte aufrechterhalten werden, da die Grippe, die Unruhen und die Arbeitseinstellung der Kriegsgefangenen „einen erheblichen Teil der Ernte verhindert“ hätte. Was in der Erde geblieben war, sei durch den frühen Frost vernichtet worden. Die Transportkrise verschlimmere darüber hinaus die Verteilung der Ernte. Noch schlechter sei es um die Getreidevorräte bestellt. Nach dem 7.2.1919 müsse die Tageskopfration auf 80 g reduziert werden. Die Milchwirtschaft stehe vor dem völligen Zusammenbruch. Für Speisefett betrage bis zum 1.4.1919 der Tageskopfsatz 3,3 g, bei Fleisch die Wochenkopfmenge höchstens 100 g. Die Sterblichkeit der einjährigen Kinder liege bei 10 %, bis zu 5 Jahren bei 20 %, bei Menschen über 70 bei einem vollen Drittel gegenüber der Vorkriegszeit. Die Alliierten würden nur Lebensmittel liefern, wenn Ordnung im Reich gewahrt und eine „wirkliche Volksregierung“ eingesetzt würde.
Rückmarsch der durch Oberkassel durchziehenden Truppen
Nach dem Waffenstillstand hatte der Rückmarsch der deutschen Truppen aus den letzten Stellungen in Frankreich und Belgien begonnen. Auf Anraten des Innenministers empfahl der Kölner Regierungspräsident allen nachgeordneten Dienststellen, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit „den nicht ordnungsgemäß entlassenen, von der Front zurückkehrenden Soldaten möglichst bald beim Überschreiten der Landesgrenze die Waffen abzunehmen und sie zuverlässig zu verwahren“. Die AS-Räte sollten mit den Gendarmeriemannschaften und den neu gebildeten Bürgerwehren in den Gemeinden längs des Rheins, über die die Rückzugsstraßen führten, diese Aufgabe übernehmen. Außerdem riet der Regierungspräsident zur Anlage von Verpflegungs- und Unterkunftsstationen für die Truppen, „um eigenmächtigen Eingriffen der Soldaten in die Vorräte der Landwirte vorzubeugen“. Das sei vor allem nötig, wenn Soldaten sich eigenmächtig von der Truppe entfernten und die Gegen durchstreiften.
Auf drei Schiffbrücken überquerten die Truppen Tag und Nacht den Rhein und zogen auch durch Oberkassels Straßen oder quartierten sich kurzfristig ein. Sämtliche Schulen wurden belegt, der Unterricht musste ausfallen. Die Soldaten wurden aufgefordert, vor ihrer Rückkehr in die Heimat sich in Orten mit Lazaretten entlausen zu lassen, um auch dem gefährlichen Flecktyphus vorzubeugen. Zum Dank für die „tapferen Helden“ zeigten die Bewohner „reichen Flaggenschmuck“, Grün und Kränze an den Häusern und errichteten Ehrenbögen mit Willkommensgrüßen. Zwar fehlten Jubel und Begeisterung von 1914, aber die Dankbarkeit, „trotz der gewaltigen Übermacht über vier Jahre lang die Heimat geschützt zu haben“, war offensichtlich. In der zweiten Novemberhälfte herrschte in Oberkassel ein „recht militärisches Leben“. Proviantwagen, große, schwere Lastautos, Feldküchen usw. durchzogen die Straßen und nahmen Aufstellung an den zugewiesenen Plätzen. Besonders die Jugend hatte viel Freude an der spannenden Abwechslung und verbrüderte sich „in harmloser Weise mit den Truppen“. Wegen des schlechten nasskalten Wetters wurden die Quartiergeber aufgefordert zu heizen, allerdings wegen der Lebensmittelknappheit die Soldaten ohne Verpflegung einzuquartieren. Für den später fehlenden eigenen Bedarf gebe es keinen Ersatz. Den durchziehenden Truppen sollten wohl eine warme Tasse Kaffee oder sonstige Erfrischungen gereicht werden. Nücker forderte die Anwohner der Hauptstraßen auf, die Straßenpflaster häufiger mit Wasser abzuspülen, da das „unsaubere Straßenbild“ den Durchmarsch sehr erschwerte. Einquartierte Offiziere und Mannschaften dankten später der Bürgerschaft für die „liebevolle Aufnahme“, die ihnen nach vier Jahren „harter Entbehrung wieder echt deutsche Art“ zeigte. Allerdings charakterisierte die Chronik der Pfarrgemeinde die letzte deutsche Division – West- und Ostpreußen – als „zuchtlose, leichtsinnige Bande“, die im katholischen Vereinshaus „nach Belieben schaltete“. Am Ende der ersten Dezemberwoche 1918 verließen die letzten Truppen Oberkassel und Nücker bat die Bewohner, in Hinblick auf die bevorstehende Besatzung, die Fahnen einzuziehen und den sonstigen Schmuck von den Straßen zu beseitigen.
Der Sicherheitsausschuss wies die Bevölkerung an, von den durchziehenden Truppen zurückgelassene Waffen und Munition sofort zu melden. „Disziplinlose“ Artillerieabteilungen und Transittruppen „verschleuderten und verkauften Militärsachen en masse“. Der A-B-S-Rat verfügte, was die Truppen nicht mitgenommen hatten, z.B. Pferde, Rindvieh, Kleidungsstücke usw., auf dem Bürgermeisteramt anzugeben. Am 3.12.1918 forderte Nücker die Oberkasseler auf, alle Waffen in Privatbesitz demSicherheitsausschuss abzugeben, um sie „einer späteren Beschlagnahme durch den Feind zu entziehen“.
Am 7.12.1918 wurden in der Wolfsburg Automobile, Pferde, Wagen, Stiefel, Bekleidungsstücke usw. zum Verkauf angeboten. Am 9.12.1918 beschloss der A-B-S-Rat, die A-B-S-Soldatenwehr nach der Entlassung aller Soldaten der Bürgermeisterei in Arbeiter- und Bürgerwehr umzubenennen; der Rat selbst tagte nunmehr als Arbeiter- und Bürgerrat. Gleichzeitig wurde der Arbeitsnachweis für die Bürgermeisterei von dem Sicherheitsausschuss auf den der SPD angehörenden Bautechniker Ernst Funk zu übertragen. Die allgemeine Sicherheitslage hatte sich wohl soweit verbessert, dass der A- und B-Rat am 11.12.1918 beschloss, die Tageswachen in Oberkassel ab sofort ausfallen zu lassen und den Sicherheitsausschuss auf höchstens zwei Mitglieder zu beschränken.
Christlich organisierte Arbeiterschaft, Anhänger des Zentrums und der liberalen Parteien gegen die Berliner „Volksbeauftragten“ und die radikale Linke
Mittlerweile hatte auch die Mobilisierung der christlich organisierten Arbeiterschaft, deren Bewegung „besonders im Rheinland“ wurzelte und deren Mitglieder und Vermögen seit Ende 1916 stark gestiegen waren, in der Bürgermeisterei deutliche Erfolge erzielt. Gewerkschaftssekretäre, katholische Geistlichkeit und die zentrumsnahe Presse wie die Oberkasseler Zeitung versuchten mit aller Macht, das Interesse der Arbeiterschaft an den politischen, wirtschaftlichen, religiösen und sozialen Fragen der neuen Zeit zu wecken und die Arbeiter zum Eintritt in eine durchsetzungsfähige christliche Gewerkschaft sowie die katholischen Vereine zu bewegen. Die Regierung in Berlin nenne sich zwar „Volksbeauftragte“, besäße aber keinen geregelten Auftrag durch das Volk, der nur durch allgemeine Wahlen zu einer Nationalversammlung vollzogen werden könne. Die größte Gefahr ginge vom Bolschewismus aus, vertreten durch die Spartakusgruppe und die Unabhängigen Sozialdemokraten mit ihrem Ziel einer sozialistischen Republik, indem sie die eigene Arbeiterklasse bekämpfe, um die Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung zu verhindern. Als weiteres Argument diente die Drohung der Alliierten, eine aufgezwungene sozialistische Republik nicht anzuerkennen und die Belieferung mit Lebensmitteln von der Einberufung einer Nationalversammlung abhängig zu machen. Besonders an die christlichen Frauen wurde appelliert, ihre neuen Rechte bei den Wahlen auszuüben, um eine Trennung von Staat und Kirche zu verhindern.
Die Berufung des Unabhängigen und als Atheisten bekannten Sozialdemokraten Adolf Hoffmann zum preußischen Kultusminister empfanden nicht nur die rheinischen Katholiken als eine Provokation, galt er doch in ihren Augen als Verkörperung der bolschewistischen Diktatur und als Zerstörer der bisherigen kultur- und religionspolitischen Errungenschaften. Die Furcht vor einer radikalen Trennung von Staat und Kirche sowie vor einer Loslösung der Schule aus dem kirchlichen Bereich war nicht unbegründet, denn die ersten Maßnahmen Hoffmanns deuteten schon die Richtung zu einer Einheitsschule ohne „kirchliche Bevormundung“ an (u.a. vollständige Beseitigung der geistlichen Aufsicht in den Volksschulen, kein Religionsunterricht als Schulfach). In dem sich aufheizenden, kulturkampfähnlichen Klima fand eine von der Kölnischen Volkszeitung als Sprachrohr verbreitete „Los von Berlin“–Bewegung zu einer selbstständigen Rheinisch-Westfälischen Republik innerhalb des Reiches große Resonanz. Auch Teile der protestantischen und jüdischen Bevölkerung des Rheinlandes zeigten sich über die Pläne Hoffmanns beunruhigt und standen der Idee einer Neugliederung des Reiches offen gegenüber.
Die am 1.12.1918 von der Ortsgruppe der christlichen Keram- und Steinarbeiter einberufene Versammlung im Saale Hübel war auf großes Interesse gestoßen. Am Ende seines einstündigen Vortrag über das Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitgeber und –nehmer mahnte Vikar Dr. Steinbüchel, kein katholischer oder evangelischer Arbeiter könne die religionsfeindliche Politik der Regierung unterstützen. Religion sei keine Privatsache; die Geistlichen gehörten in die Schulen, und den Kindern dürfe die Religion nicht entzogen werden. Die „angebliche Regierung“ führe in eine Diktatur, die mit einem Staatsbankrott ende: Daher schleunigste Einberufung der Nationalversammlung! Brenner, der Vorsitzende der gewerkschaftlichen Ortsgruppe, ermahnte die Versammelten, augenblicklich beizutreten, denn nur eine geschlossene starke Organisation garantiere auch die Durchsetzung ihrer Forderungen über die Stundenlöhne und den achtstündigen Arbeitstag. Schließlich kritisierte Brenner die mangelhafte Lebensmittelversorgung und –verteilung in der Bürgermeisterei. Düppen beendete die Berichterstattung mit dem Appell: „Hinein in die christlichen Gewerkschaften! Hinein in die christlichen Vereine!“ Gleichzeitig forderte Düppen seine Leser auf, möglichst zahlreich zu den zwei Zentrumsversammlungen für Oberkassel und Römlinghoven sowie für Ober- und Niederdollendorf eine Woche später zu kommen, denn von dem preußischen Kultusminister Adolf Hoffmann drohten große Gefahren auf religiösem Gebiet.
Das katholische Vereinshaus konnte am 8.12.1918 die Menge kaum fassen, denn wie die anderen bürgerlichen Parteien stand auch das Zentrum vor völlig neuen Herausforderungen. Düppen wunderte sich über die vielen Frauen, die wohl „die Zeichen der Zeit erkannt“ hätten. Hauptredner, Pfarrer Müller-Seelscheidt, pries die Einführung der parlamentarischen Monarchie im Oktober 1918 als eine „deutsche Revolution, aus deutschem Geist geboren, eine Revolution mit deutscher Gründlichkeit und Sachlichkeit“, bei der die Staatsgewalt unerschüttert geblieben war und die Ordnung aufrechterhalten wurde. Der Militarismus und der alte Obrigkeitsstaat seien dem Volksstaat gewichen, auf den sich Kaiser und Reichstag geeinigt hätten. Die „andere Revolution“ am 9.11.1918 charakterisierte der Pfarrer als „undeutsch“, mit der USPD als treibender Kraft, „dahinter russische Elemente“, was nicht dem Volkswillen entspreche. „Junge Burschen und losgelassene Verbrecher vergriffen sich an den Ehrenzeichen unserer Soldaten“. Diese „Gewaltrevolution“ sei für den Frieden unnötig gewesen, „denn dadurch mußte sich das deutsche Volk wehrlos dem Feind zu Füßen legen“. Das Wort „Los von Berlin“ könne nicht wieder verstummen, hielt doch der Pfarrer die Deutschen im Westen für „eine Blüte des deutschen Reiches“. Notfalls plädierte er für eine „rheinisch-westfälische Republik“. Am Ende forderte er die Frauen auf, ihre politischen Pflichten zu erfüllen und Männer (!) in das Parlament zu wählen, die „mannhaft“ einträten für die „Rechte der Kirche und den christlichen Charakter der Schule“, gegen die Trennung von Staat und Kirche, gegen die „Entchristlichung der Volksschule“ und die Sozialisierung der Produktion.
Beginn der „feindlichen Besatzung“ in Oberkassel und Ende der Arbeit des ABS-Rates
Schon am 5.12.1918 hatte Nücker die Einwohner Oberkassels mit der bevorstehenden „feindlichen Besatzung“ konfrontiert: Auch wenn die Zahl noch nicht bekannt sei, müssten Vorkehrungen getroffen werden, denn es fehle Bettzeug, Betten und für Offiziersquartiere Zimmereinrichtungen. Die Sache eile; wenn jede Familie bis zum 7.12. schriftlich dem Bürgermeisteramt mitteile, was sie zur Verfügung stellen könne, werde er eine Inanspruchnahme von Räumen für die Besatzung möglichst vermeiden. Am 11.12.1918 kamen britische Quartiermacher nach Oberkassel und verlangten für die Besatzungstruppen beheizte Räume, Betten und für die Offiziere eingerichtete Zimmer. Am 12.12.1918 kam ein Schwadron kanadischer Kavallerie, das am nächsten Tag wieder weiterzog. Am 13.12.1918 erreichten über 900 Mann kanadische Infanterie den Ort: Für Oberkassel waren vorgesehen 54 Offiziere, 965 Mann, inbegriffen der Generalstab mit einem General, 130 Offizieren, 136 Mann und 49 Pferden. Die Offiziere samt Brigadestab sollten in dem von Hartwigstraße, Hauptstraße und Kirchstraße begrenzten Ortsteil in Einzelquartieren untergebracht werden. Für die Mannschaften waren Massenquartiere vorgesehen: alle verfügbaren Säle, die Räume der katholischen Volksschule, die erst nach dem 16.4.1919 dort wieder Unterricht abhalten konnte, sowie die Kalkuhlsche Realschule, die mit 300 Schülern und 14 Lehrern den Unterricht einstellte. Das Hotel Stadt Bonn war für Zivilisten gesperrt.
Sogleich wurde Nücker mit der Beschwerde der Kommandantur konfrontiert, dass Offiziere nicht gegrüßt würden. Ab sofort sollte „jede Zuwiderhandlung mit 200 Mark“ bestraft werden. Kämen mehrere Fälle vor, erhalte die Gemeinde Oberkassel eine große Geldbuße. Hauptlehrer Meng brachte es in seiner Kriegschronik auf den Punkt: „Die Engländer zeigten sich als Sieger, die Herren“.
Am 14.12.18 nachmittags erhielt Nücker die Anweisung, bis Sonntag, 15.12.18, um 13 Uhr 850 vollständige Betten an festgesetzten Stellen abzuliefern – bei nur 600 Wohnhäusern! -, was aber wegen „Transportschwierigkeiten“ nicht in dieser Höhe gelang, so dass nach Gutdünken der Besatzer in kürzester Frist auch Bürgerquartiere in Anspruch genommen wurden und selbst kinderreiche Familien ihre Wohnung räumen oder zwei und mehr Betten abgeben und Bewohner auf der Erde schlafen mussten. „Auf Grund des Kriegsleistungsgesetzes“ konnte Nücker die aus 4 – 6 Räumen bestehende Brauereimeisterwohnung beschlagnahmen und für die Familie Michael Dreesbach bis zum 15.12.18 räumen lassen.
Erst nach Monaten konnten die abgelieferten Betten in sehr desolatem Zustand gegen eiserne Bettgestelle umgetauscht werden; allein diese Entschädigungskosten beliefen sich auf über 100.000 Mark. Schon am 27.12.1918 empfahl Nücker, mit der Zusammenstellung der durch die Besatzung entstandenen Kosten zu beginnen und bis zum 3.1.1919 die Forderungen geltend zu machen. Wer Sachen abgebe ohne Bescheinigung des Gemeindevorstehers, könne nichts bezahlt bekommen.
Fortan verlief das Leben in Oberkassel nach einem strengen Besatzungsregime. Am 14.12.1918 unterrichtete der Kölner Regierungspräsident alle nachgeordneten Behörden von der Anordnung des britischen General-Gouverneurs, dass sich in den besetzten Gebieten „die Arbeiter- und Soldatenräte jeglicher Einwirkung auf Staats- und Kommunalbehörden zu enthalten“ hätten, ihre Tätigkeit sofort einstellen müssten und auch keine kommunalen Gebäude mehr benutzen dürften. Auch eine Bewaffnung von Gendarmen und Forstbeamten sei abzulehnen.
Die Oberkasseler Zeitung führte seit dem 17.12.1918 in ihrem Titel: „Gedruckt mit Erlaubnis der britischen Militärbehörde“. Waffen und Munition waren sofort herauszugeben. Der „Arbeiter- und Bürgerrat“ wurde nicht anerkannt. Nächtlicher Straßenverkehr war von 20 Uhr bis 5 Uhr morgens nicht gestattet. Alle Fuhrwerke sollten „scharf auf der rechten Seite fahren und nach 4 ½ Uhr auf der linken Seite Licht“ haben.
Britischen Offizieren und Soldaten waren Requisition und Kauf von Nahrungsmitteln außer Gemüse streng verboten. Die Truppe verpflegte sich selbst. Nur auf den von der Gemeinde ausgestellten Scheinen durften Sachen abgegeben werden. Der deutschen Zivilbevölkerung war es nicht erlaubt, britische Kleidungs- und Ausrüstungsstücke, Lebensmittel oder sonstige Vorräte zu kaufen. Wirten und Kaufleuten war es verboten, Schnaps und ähnliche Alkoholika in die Schaufenster zu stellen. Die Hausbesitzer mussten genaue Hauslisten auf der Innenseite der Haustür anbringen.
Für den Aufenthalt in der Gemeinde brauchten alle Oberkasseler über 12 Jahre einen Personalausweis, den bis Ende des Jahres erst wenige besaßen, – für den Verkehr in die unbesetzte Zone einen Verkehrsschein. Briefsendungen über die besetzte Zone hinaus und Briefe der Behörden unterlagen der Zensur. In den Geschäften ausgestellte Waren waren mit festen Preisen zu versehen, bei zu hohen Preisen zu beschlagnahmen.
Alle Männer hatten britischen Offizieren „gebührende Achtung“ zu erweisen, bei Anrede oder beim Spielen der Nationalhymne den Hut abzunehmen; die „Grußpflicht“ der deutschen Männer gegenüber den Offizieren wurde als „besonders schlimm“ und „unerträglich“ empfunden. In der Folge gingen die Männer ohne Hut oder wenig begangene Wege. Die Uhren waren nach der englischen Zeit zu stellen. Den der britischen Armee auszuhändigen Lastautos hatten die Besitzer vorher wichtige Teile ausgebaut, so dass der Landrat sich genötigt sah, die „Mechanismen“ bis zum 31.12.1918 einzufordern. Plakate der britischen Militärbehörde abzureißen, was wohl häufiger geschah, stand unter strengen Strafen.
Am 17.12.18 remonstrierte Nücker bei der Kommandantur, eine Besatzung von über 1000 Mann sei „für den noch nicht 3600 Seelen enthaltenden Ort eine außerordentliche Belastung“, vor allem für einen längeren Zeitraum. Die Oberkasseler fänden diese „Belegung umso drückender, als andere im Siegkreis gelegene Orte innerhalb der 30 km Zone überhaupt nicht belegt“ seien. Nücker bat vergeblich um eine Entlastung.
Allerdings hatte sich zur Freude der Dollendorfer Ende des Jahres herausgestellt, dass Ober- und Niederdollendorf irrtümlich besetzt worden war, so dass die Truppen abziehen mussten und vom 1.1.11919 an Dollendorf außer Römlinghoven zum neutralen (unbesetzten) Gebiet gehörte und die Bürgermeisterei nun in zwei durch Wachmannschaften kontrollierte Zonen aufgeteilt war. Englische Posten zur Ausübung der Passkontrolle standen am Reichsbahnbahnhof, an der Haltestelle Römlinghoven der Siebengebirgsbahn, am Rheinufer und verstärkt mit einem Schildwachhaus an der Straße nach Dollendorf.
In der Silvesternacht wurde vor dem „Abgeben blinder Schüsse (auch aus Spielwaffen)“ und dem „Knallen mit Feuerwerkskörpern dringend“ gewarnt. Das Betreten der Straßen war von abends 9 Uhr bis morgens 5 Uhr verboten. Düppen resümierte: „Hinter uns liegt ein Jahr voller kühnster Erwartungen und Hoffnungen, … der blutigsten Kämpfe, des bittersten Leids, der stärksten politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen. Die Gegenwart ist erfüllt von den lebhaftesten inneren Kämpfen, Weltanschauungen stehen in heißem Ringen“. „Allerdings erblüht uns nicht der Friede, wie wir ihn erwartet haben. Es ist ein Friede aus der Niederlage geboren, der geradezu beängstigend wirkt durch den tiefen Druck volkswirtschaftlicher Sorgen. … Das graue Heer ist daheim … Aufrechten Hauptes verließ es die Kampfplätze, die so unendlich viele Taten deutscher Tapferkeit sahen. … Durch Dunkel und Leid schreitet das deutsche Volk, … das so herabgestürzt wurde aus vermeintlicher Größe und Herrlichkeit“.
In seinem Gedicht auf 1919 glimmt Hoffnung auf:
„Nun denn! Schließt neunzehnhundertachtzehn ab!
Das Unglück sinkt mit ihm ins Grab!
Wir fassen stark uns bei den Händen!
Nur Mut und Arbeit kann das Schicksal wenden –
Bring, neunzehnhundertneunzehn, Glück herab!“
Quellen und Literatur:
- Kreisarchiv Siegburg, Bestand Landratsamt Siegkreis, 306; 2301.
- Stadtarchiv Königswinter, Bestand Amt Oberkassel, 637; 884; 885; 889; 1371.
- Bildarchiv des Heimatvereins Bonn-Oberkassel.
- Chronik der Pfarrgemeinde St. Cäcilia.
- Kriegschronik geführt von Hauptlehrer Meng.
- Oberkasseler Zeitung 1918.
- Schulchronik der katholischen Schule.
- Hombitzer, Adolf: Aus Vorgeschichte und Geschichte Oberkassels und seiner Umgebung. Oberkassel o.J.
- Petri, Franz u. Droege, Georg (Hrsg): Rheinische Geschichte, Bd. 2; 3. Düsseldorf 1976, 1979.
- Tormin, Walter (Hrsg): Die Weimarer Republik. Hannover 1962.